
In der Donaumonarchie reiste man von Graz nach Klagenfurt über Marburg an der Drau. Später wurde es sogar noch etwas umständlicher: Reisende fahren seither sozusagen „mit der Kirche ums Kreuz“ über Bruck an der Mur. Nach über hundert Jahren wird nun endlich eine (sehr) direkte Verbindung Realität – mit einem 32,9 km langen Tunnel mitten durch die 2.000 Meter hohe Koralm, die schon seit ca. 300 Millionen Jahren die Steiermark von Kärnten trennt.
Die Koralmbahn, eines der aktuell größten Neubauprojekte der Österreichischen Bundesbahnen, wird zu Recht als „Jahrhundertprojekt“ bezeichnet: Seit 100 Jahren besteht akuter Bedarf, seit einem halben Jahrhundert wird schon darüber diskutiert und seit einem Vierteljahrhundert wird schließlich daran gebaut. Mit einer Gesamtinvestition von nicht ganz 6 Milliarden Euro stellen sich Kritiker natürlich die Frage, ob denn der gewaltige Aufwand in irgendeiner wirtschaftlich vernünftigen Relation zu den 40 Minuten steht, die der Zugreisende von Graz nach Klagenfurt „gewinnt“ – nur damit er oder sie dann noch in Ruhe einen Kaffee beim Lindwurm trinken kann, bevor der nächste Geschäftstermin beginnt.
Ist es die Milliardeninvestition wert,
um die Fahrzeit zwischen den beiden
Landeshauptstädten um 40 Minuten
zu reduzieren?
40 Minuten vs. 6 Milliarden
Die Antwort auf diese ebenso berechtigte wie schwierige Frage ist eindeutig: Es ist die falsche Frage! Der Gewinn an Zeit und Bequemlichkeit ist zwar im Hier und Jetzt recht nett, aber schwer in Produktivitätsgewinne während der kommenden hundert Jahre umzurechnen. Daher probieren wir es gleich gar nicht und machen uns besser Gedanken darüber, worum es bei so einem Jahrhundertprojekt wirklich geht: Eine neue Bahnverbindung ist für unsere Gesellschaft sowie für unsere Wirtschaft in etwa dasselbe, wie eine Arterie in unserem Körper.
Die Frage, ob es sich „auszahlt“, die Zehen am linken Fuß durchgehend und gleichmäßig mit entsprechenden Blutgefäßen zu versorgen, stellen wir uns auch nicht. Eine leistungsfähige Bahnverbindung ist schlicht eine massive Zukunftsinvestition, die neue Realitäten und Möglichkeiten schafft, um die herum sich Wirtschaft und Gesellschaft weiterentwickeln. Und wir wären selbstverständlich nicht dort, wo wir heute sind, wenn nicht unsere Vorväter ebenso langfristige und verwegene Investitionsentscheidungen gefasst hätten.
Ganze Regionen blühen auf
Der langfristige positive Effekt der Koralmbahn ist in den vergangenen Jahren schon längst sichtbar geworden, obwohl die Inbetriebnahme im Kärntner Teil erst im Jahr 2023 bzw. auf der Gesamtstrecke überhaupt erst im Jahr 2025 erfolgt: Überall entlang der zukünftigen Hochleistungsstrecke und insbesondere im Bereich der neuen regionalen Bahnhöfe und multimodalen Transport-Hubs haben sich bereits seit Jahren unzählige neue Betriebe und ganze Geschäftszweige angesiedelt.
Ob im Süden von Graz, der Weststeiermark oder der neuen Verkehrsdrehscheibe im Kärntner Lavanttal: Neue Betriebsansiedelungen mit neuen Geschäftsmodellen entstehen entlang der Koralmbahn ebenso wie neue Bürostandorte, die aus den teuren und überlasteten städtischen Ballungsräumen sozusagen auf die „grüne Wiese“ übersiedeln – und mit Bahnanschluss, Internetverbindung und frischer Luft zu neuer Kosten- und Produktivitätseffizienz finden. So etwa die gigantischen Logistikzentren südlich von Graz, die sich in Vorwegnahme der Koralmbahn bereits vor circa zwei Jahrzehnten in Werndorf angesiedelt haben.

So etwa die gigantischen Logistikzentren südlich von Graz, die sich in Vorwegnahme der Koralmbahn bereits vor circa zwei Jahrzehnten in Werndorf angesiedelt haben. Am Schnittpunkt zwischen den bisherigen regionalen Bahnlinien, der Pyhrnautobahn sowie der zukünftigen Koralmbahn, haben sich in diesem Bereich bereits Dutzende Logistikbetriebe in Stellung gebracht, die mit multimodalen Transportdienstleistungen ihre Geschäftsmodelle ständig erweitern.
Baltisch-adriatischer Lückenschluss
Im größeren Kontext ist die 130 km lange Koralm-Neubaustrecke freilich nur ein kleiner Puzzlestein im gigantischen transeuropäischen Verkehrsnetz – als eines von nahezu 100 europäischen Projekten, die unter dem Stichwort der transeuropäischen Netze den europäischen Binnenmarkt vorantreiben. Der sogenannte Baltisch-Adriatische Korridor führt vom Baltikum bis an die Adria und verbindet auf seiner Strecke von den Hafenstädten Danzig bis nach Rimini dabei Polen, Tschechien, die Slowakei, Österreich und Italien – mehr oder weniger entlang der historischen Bernsteinstraße. Aufgrund der Topografie in unseren Breiten ist die Nord-Süd-Achse durch die Alpen natürlich ein kritisches Nadelöhr. Daher sind der 32 km lange Koralmtunnel und der 27 km lange Semmering-Basistunnel nicht nur aus österreichischer Sicht zwei enorm wichtige Großprojekte.
Herzstück mit bis zu 2.000 Metern Überdeckung
So wurde im Jahr 2008 schließlich der Koralmtunnel mit dem ersten Baulos auf der steirischen Seite in Angriff genommen. 2018 erfolgte der Tunneldurchschlag. Aufgrund der einzigartigen und teils schwierigen geologischen Verhältnisse wurden ca. 2/3 des zweiröhrigen Tunnelprojekts im konventionellen Vortrieb umgesetzt. Auf der verbleibenden Strecke kam im dritten Baulos (KAT3) der sogenannte kontinuierliche Vortrieb mit einer hochkomplexen, 200 Meter langen Tunnelbohrmaschine zum Einsatz. Das auf „Kora“ getaufte Wunderwerk ist 2.500 Tonnen schwer und hat eine Leistung von 10.000 PS. Unmittelbar nachdem sich „Kora“ durch das Gestein gebohrt hatte, wurden die Tunnelröhren mit Betonfertigteilen, den sogenannten Tübbingen, ausgekleidet und gesichert. Sieben komplex geformte Elemente werden dabei zu jeweils einem Ring zusammengefügt – in gewisser Weise wie verschraubt. Die Betonelemente mussten daher auch mit höchster Fertigungspräzision im Zehntelmillimeterbereich und in makelloser Qualität erzeugt, verlegt und abgedichtet werden – denn der Wasserdruck im Inneren des sechstlängsten Eisenbahntunnels der Welt ist aufgrund der bis zu 2.000 Meter betragenden „Überdeckung“ teilweise sehr hoch. Dazu kommt, dass die geologischen Prozesse, die die Alpen gebildet haben, noch nicht zur Ruhe gekommen sind. Die Koralm ist also sozusagen noch nicht fertig – ganz im Gegensatz zum Tunnel, der 2025 wie geplant in Betrieb gehen wird.
Mobiles Tübbingwerk am Tunnelportal
In einer temporären Fertigungsstätte der ARGE PORR – MABA (PTS) in Mitterpichling bei St. Andrä im Lavanttal wurde für den Bauabschnitt KAT3 im Jahr 2015 zur Produktion der Tübbinge daher eine Umlaufanlage mit insgesamt 48 Schalungen nur wenige Hundert Meter vom Westportal des Koralmtunnels entfernt errichtet. Bis Ende 2019 wurden dort im Durchschnitt 100 Betonsegmente pro Tag produziert und für den Einsatz in der Tunnelbohrmaschine zwischengelagert.

Betriebsansiedelungen und neue wirtschaftliche Verflechtungen:
Entlang der „Arterie“ Koralmbahn nehmen ganze Regionen einen Wirtschaftsaufschwung wahr – von der Region südlich von Graz über die Weststeiermark bis ins kärntnerische Lavanttal. Betriebsansiedelungen, Bürozentren, Logistikparks entstehen bereits seit Jahren entlang der Bahntrasse, obwohl die Koralmbahn noch gar nicht fertiggestellt ist. Neben dem logischen Cargo-Geschäft mit direkter Bahnanbindung ziehen aber auch viele Unternehmen aus der beengten und verkehrskritischen Stadt auf die grüne Wiese neben einem der Bahnhöfe.
Insgesamt wurden in der Feldfabrik in St. Andrä über 42.000 Tübbinge für den ca. 10,5 km langen Bauabschnitt hergestellt. Dabei mussten zu jeder Zeit ca. 2.000 Tübbinge mit unterschiedlichen Spezifikationen am Lagerplatz bereit liegen, die von dort bis vor Kurzem noch für den Einbau herangezogen wurden – lange, nachdem die Produktionshalle bereits abgebaut wurde.
Mit komplexer, computergestützter Lagerlogistik und einem halbautomatischen Portalkran wurde sichergestellt, dass die Tunnelbohrmaschine so zu jeder Zeit mit den richtigen Tübbingen in der korrekten Reihenfolge „just in time“ versorgt wurde. Jetzt, wo die Tunnelröhren endgültig fertiggestellt sind, liegt der Fokus bereits ganz auf dem Einbau der sogenannten „festen Fahrbahn“ – die erneut aus der Produktion der MABA Fertigteilindustrie GmbH geliefert wird.
Mit der festen Fahrbahn ins Finale
Die Produktion der insgesamt 20.000 Gleistragplatten, die entlang der Koralmbahn zum Einsatz kommen, startete bereits im August 2020 am Standort Wöllersdorf der MABA Fertigteilindustrie GmbH, die das Projekt in einer Arbeitsgemeinschaft mit der oberösterreichischen HABAU-Gruppe abwickelt.
Die Produktion der festen Fahrbahn, die auf den insgesamt über 50 km zählenden Tunnelabschnitten sowie auf der kilometerlangen Unterflurtrasse im Bereich Graz-Thalerhof zum Einsatz kommt, ist bereits zu 95 Prozent abgeschlossen. Im Zuge des Großprojekts wurde in Sollenau, Niederösterreich, ein eigener Lagerplatz in Betrieb genommen, der über eine Lagerkapazität für 4.300 Gleistragplatten verfügt. Der Lagerplatz wurde ein halbes Jahr lang aus der laufenden Produktion in Wöllersdorf gefüllt. Der Abtransport der Gleistragplatten erfolgt über Züge, die die komplexen Betonfertigteile entweder direkt an den Einsatzort oder in ein weiteres Zwischenlager in St. Andrä auf der Kärntner Seite des Koralmtunnels bringen.
Insgesamt kommen auf der Koralmstrecke 60(!) unterschiedliche Varianten von Gleistragplatten zum Einsatz – je nach Radien und den speziellen Erfordernissen am Installationsort. Die Gleistragplatten werden – ähnlich wie die Tübbinge zuvor – auf Zehntelmillimeter genau produziert und werden am Einsatzort mit einem Spezialverguss mit dem Untergrund verbunden.
Bahnbau geht in den Endspurt
Während noch Monate vergehen werden, bis die letzten Gleistragplatten ihre Lagerplätze verlassen, beginnt im Gesamtprojekt Koralmbahn bereits der große Endspurt. Denn abgesehen von den gigantischen Baumaßnahmen, mit denen in den vergangenen 25 Jahren mehr als 100 Brücken und Unterführungen, knapp 50 km an Tunnels sowie 23 Bahnhöfe und Haltestellen errichtet bzw. modernisiert wurden, geht es nun langsam an die Feinarbeit. Allein ein ganzes Jahr wird vergehen, um die ganzen Steuerungssysteme auf Herz und Nieren zu testen und den Probebetrieb abzuschließen. Erst dann, wenn alles perfekt funktioniert und eingespielt ist, können endlich die ersten Züge mit bis zu 250 km/h über das Jahrhundertprojekt Koralmbahn rauschen. Und die Frage, was das alles gekostet hat, ist dann auch längst vergessen …



